Neue Social Gatekeepers
Average Newsletter #5 – Die öffentlich-rechtlichen Schleusenwärter von Twitter
Das Zeitalter der Massenmedien liegt bereits hinter uns. Die Gutenberg-Klammer hat sich nach der Jahrtausendwende geschlossen; das Web 2.0 und spätere Social und Mobile Web haben die Polarität von massenmedialen Sendern und Empfängern ohne Rückkanal verschoben zu einer neuen Polarität aus Konzentration und Fragmentierung. [1]
Die neuen Gravitationszentren sind keine Medien, sondern Plattformen. Sie heißen u. a. Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft (kurz GAFAM), aber auch genauso gut Alibaba, Baidu, Telegram, Tencent oder auch Tesla. Sie konzentrieren Aufmerksamkeit mit ihre Medien-Services ohne selbst zu senden, bieten Rückkanäle, vernetzen individuelle Accounts (nicht immer auch Personen), fragmentieren Öffentlichkeit und erlauben die Nutzung ihrer sozialen Netzwerkinfrastrukturen zur Ausbildung von Personenmedien mit enormer Reichweite. Cristiano Ronaldo, Taylor Swift, Elon Musk [2] oder Donald Trump erreichen mehr Menschen als große TV-Sender oder Tageszeitungen noch vor zwanzig oder dreißig Jahren.
Im deutschsprachigen Raum bauten vor allem auch die Celebrities aus Medienhäusern ihre Megaphone auf Twitter aus – oft über die Gebührenfinanzierung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, egal ob als Nachrichten-, Wetter- oder Satiresprecher. Dass hier Reichweite kapitalisiert wird, die mit Quasi-Steuergeld bezahlt wird, darf als problematisch angesehen werden.
In der Studie “Strukturpolarität - Konzentration und Fragmentierung als neues Paradigma der Aufmerksamkeitsökonomie”, die im demnächst erscheinenden Band “Die digitale Transformation der Medien” (Springer Gabler) abgedruckt ist, widme ich dieser Frage zwei Absätze:
Eine besondere Rolle als Bindeglied zwischen traditionellen Massenmedien und dem Social Web kommt journalistischen Mitarbeitern von Medienhäusern zu. Viele nützen ihre berufliche Position und damit verbundenen Wahrnehmung und Popularität dazu, um als Personenmarke und -medium selbst auch in den sozialen Netzwerken ihre potenzielle Reichweite […] zu realisieren und zu bewirtschaften. Sehr oft verschwimmen dabei die Grenzen professioneller Kommunikation mit persönlicher Meinung, sodass es beim Publikum zwangsläufig zu einer neuen Form der gemeinsamen Wahrnehmung von Arbeitgeber-Medium und sozialem Medium kommen muss. Wenn beispielsweise eine populäre Journalistin einer Tageszeitung oder TV-Anchorman auch als soziales Medium agiert, inhaltlich damit den Rahmen des beruflichen Bereichs verlässt oder professionelle Recherchen im persönlichen Kontext um eigene Meinung anreichert, dann erfordert das bei den Rezipienten schon ein sehr hohes Maß an Konzentration und Abstraktionsvermögen einzelne Tweets oder Facebook-Postings richtig einzuordnen, also dem professionellen oder persönlichen Absender zuzuordnen. Diese Vermischung oder Erweiterung der kommunikativen Dispositive kann von Seiten des Mediums und des Journalisten ausgehend auch erwünscht und vorsätzlich angestrebt werden.
Das wirft Fragen der journalistischen Ethik besonders im Bereich öffentlich-rechtlicher Medien in ihrer demokratischen Funktion auf: Ist eine Aktivität von Personenmedien über die inhaltlichen Anforderungen eines gesamtgesellschaftlich finanzierten damit besonderen Anforderungen des Mediums hinaus überhaupt zulässig? Und wenn ja, in welcher Form? [3] De facto werden in so einem Fall mit verpflichtenden Gebühren, Abgaben oder Steuern Identitätsmarken von Einzelakteuren gestützt, deren inhaltliche Äußerungen über den journalistischen Kernbereich hinaus im professionell-persönlichen Medienverbund an sich kritisch zu sehen sind. Die neue Macht der sozialen Medien etabliert damit auch Personenmedien, die in ihren Organisationen schon diese Rolle einnehmen, als neue Social Gatekeepers innerhalb der Plattformen. Diese sozialen Schleusenwärter verlassen das angestammte mediale Dispositiv und wirken sichtbar in ihrer inhaltlichen Filterfunktion und Gewichtung darüber hinaus. Sie werden damit aber auch ideologisch transparenter.
[1] Für eine ausführliche Erläuterung siehe “Strukturpolarität - Konzentration und Fragmentierung als neues Paradigma der Aufmerksamkeitsökonomie” in “Die digitale Transformation der Medien” (Springer Gabler)
[2] Diese Woche steht im Zeichen eines besonderen Zirkelschlusses, weil Elon Musk – selbst eine dieser Personenmarken und Gründer von Tesla – mit Twitter eine besondere Plattform der Aufmerksamkeitsökonomie übernimmt und damit mehrere Strukturphänomene in einer Person vereint. (Mark Zuckerberg hat wohl auch ein Facebook-Profil, aber nicht diesen Impact.) Was diese besondere Konvergenz aus drei Richtungen in Elon Musk für die Theorie genau bedeuten wird, bedarf etwas mehr Überlegung, die ich vielleicht in einem späteren Beitrag anstellen werde.
[3] Die BBC etwa diskutiert immer wieder Einschränkungen und Richtlinien über die Anwendung persönlicher Accounts von Journalisten. Siehe https://www.horizont.at/medien/news/soziale-medien-bbc-generaldirektor-droht-mitarbeitern-mit-twitter-bann-82511