Die neue Gegenwärtigkeit des Metaverse
Average Newsletter #2 – Neal Stephenson kommentiert den digitalen Wandel
Dieser Text erschien am 8. Jänner 2022 auch als Gastbeitrag in der Tageszeitung Die Presse.
Neal Stephenson hat vor 30 Jahren den Begriffe Metaverse erfunden. Was sagt der Autor heute zum technologischen Wandel?
Mit dem Metaverse bekommt das Internet nicht nur neue Anwendungen, sondern vor allem eine neue Schnittstelle. Statt auf kleinen Smartphonescreens zu tippen und auf nicht viel größere Bildschirme zu schauen, tauchen User in eine computergenerierte Parallelwelt ein. Das Metaverse ist kein zweites Internet, sondern eine virtualisierte Ebene des Alltags, die eine Besonderheit aufweist, die neben der oberflächlichen Faszination für dreidimensionale Welten untergeht: Gleichzeitigkeit.
Neue Synchronität
Die online vorherrschende Asynchronität der Kommunikation wird über eine neue körperliche Anwesenheit der Nutzer aufgehoben. Schon jetzt gibt es – nicht nur wegen Corona – Livekonzerte mit Publikum im Metaverse, die ein anderes Miterleben erzeugen als Streams, die letztendlich nicht zu einem dergestalt kollektiv geteilten Ereignis führen können. Die Rolle eines Chatbots in einem Onlineshop wird dann ein Avatar in einem dreidimensionalen Abbild eines Geschäfts übernehmen. Die Arbeitswelt wird auch ins Metaverse wandern und mit ihr die digitalisierten Papierstapel auf einem 3-D-gerenderten Schreibtisch. Die Veränderungen der Gesellschaft werden weitreichend sein, auch wenn wir über ihre Beschaffenheit nur spekulieren können.
Snow Crash
Eine Idee zu haben zieht nicht die Verantwortung nach sich, sich ihrer Konsequenzen gewahr zu sein. Auch für ihren Vollzug kann der Schöpfer nicht haftbar gemacht werden. Als Neal Stephenson 1992 für seinem Roman „Snow Crash“ den Begriff Metaverse für eine vernetzte virtuelle Realität erfand, wurden die ersten Anwendungen einer Virtual Reality (VR) bereits entwickelt. Dass es nicht so bald zu einer Integration ins Internet kommen würde, war für den Autor absehbar:
Es handelt sich um ein schwieriges technologisches Problem, das große Fortschritte sowohl bei der Hardware (immersive 3-D-Geräte) als auch bei der Software (die zugrunde liegende Netzwerktechnologie, mit der alles in Echtzeit funktioniert) erfordert. Erst seit ein paar Jahren gibt es wirklich solide Hardware mit niedriger Latenz, und vieles davon ist für den Normalverbraucher noch zu teuer. Auf der Softwareseite wird die erforderliche Infrastruktur erst jetzt geschaffen.
Aus Facebook wird Meta
Beteiligt an der Errichtung dieser Infrastruktur sind viele Unternehmen, vor allem aus der Spieleindustrie, aber kein namhaftes hat sich so eindeutig deklariert wie Facebook, das im Zuge einer strategischen Orientierung Richtung Metaverse gleich auch seinen Namen auf Meta angepasst hat. Auch durch diese Verbindung zu dem bei kritischen Beobachtern nicht besonders beliebten Mark Zuckerberg haftet dem Datenraum schon heute die Atmosphäre eines eskapistischen Konsumismus an, der auch durch Filme (und Bücher) wie etwa „Ready Player One“ verstärkt wird, wenn Menschen ihre virtuelle Umwelt nur für Lieferungen von Uber Eats und Amazon verlassen.
Meta Reverb
Wie fühlt sich Neal Stephenson bei dem Gedanken, dass sein fiktionales Konzept heute von einem der reichsten Menschen als Leitplanke für die zukünftige Entwicklung seines Konzerns genommen wird? Hat er Angst, Meta könnte sein Konzept so verdrehen, dass es sich gegen ihn richtet?
Diese Entwicklung hat sich seit Langem abgezeichnet und ist daher für mich keine Überraschung. Glücklicherweise ist das Buch schon seit fast 30 Jahren im Umlauf, sodass jeder nachlesen kann, was darin tatsächlich steht. Die Tatsache, dass es eine satirische, komödiantische Schlagseite hat, macht deutlich, dass der Inhalt mit Vorsicht zu genießen ist.
Der Autor bleibt beim Metaverse optimistisch:
Es handelt sich um eine Weiterentwicklung bestehender Technologien, nicht um einen Ersatz. Und ich hoffe, dass es eine Verbesserung sein wird, im Sinne von humanistischer – weniger zerstörerisch für das soziale Gefüge. Wir haben bei der Entwicklung der von Ihnen genannten Technologien viele Fehler gemacht. Die meisten davon waren unbeabsichtigt und beruhten auf naivem Idealismus über die menschliche Natur. Heute ist niemand mehr naiv-idealistisch, und so wird die nächste Generation dieser Technologien vielleicht weniger anfällig dafür sein, von Bösewichten ausgenützt zu werden.
Gemeint ist nicht nur Facebook, das einen substanziellen Beitrag zur Fragmentierung von Öffentlichkeit und Individualisierung von Realität beiträgt. Alle sozialen Netzwerke erzeugen durch die algorithmische Zusammensetzung von Stoffen wahrgenommene Wirklichkeiten, die zunächst unabhängig von ihrer Wahrhaftigkeit für jeden anders aussehen. Dazu kommen gezielte Manipulation und Gegenmanipulation von Inhalten etwa mit Deep Fakes, die auch in Stephensons letzten beiden Büchern „Termination Shock“ und „Fall; Or, Dodge in Hell“ am Rande Thema ist. In Letzterem wird das Internet durch eine Flut an fingierten Inhalten als Medium zur Informationsverbreitung weitgehend außer Kraft gesetzt. Die tatsächliche Quelle oder wahrhaftige Informationen oder Nachrichten können in einer Lawine erzeugter Falschinhalte nur mehr mit großem Aufwand gefunden werden. Auf das mögliche tatsächliche Eintreten dieser Entwicklungen angesprochen meint Stephenson:
Es passiert buchstäblich jetzt, vor unseren Augen. Die in ,Fall‘ geschilderten Ereignisse sind nur leichte Übertreibungen von Dingen, die bereits geschehen sind.
Aber was kann man dagegen tun? Nicht viel, aber es gibt Ansätze:
Jaron Lanier hat sich für die Idee von Datengewerkschaften ausgesprochen: Zusammenschlüsse von Nutzern, die mit Social-Media-Unternehmen über das Recht auf Zugang zu ihren Daten verhandeln. Das ist eine Idee, die ich für vielversprechend halte.
Gleichzeitigkeit mit Aviso
Technologie ändert menschliche Kommunikation auf unvorhersehbare Weise. Gleichzeitigkeit ist eine Domäne des persönlichen Kontakts und der Privatsphäre. Früher gab es etwa keine Möglichkeit, Telefonanrufe anzukündigen. Spätestens mit Smartphones hat sich die neue Etikette etabliert, Anrufe vorab mit Textnachricht anzukündigen. Den Tagesablauf stören dürfen nur Partner, Freunde und Familie. Wer das ignoriert, gilt als unhöflich. Aber auch dieser Prozess ist vielleicht reversibel; auch unser aller Pandemie hat Konventionen in der Kommunikation geändert und den Anpassungsdruck an neue Technologien erhöht. Stephenson:
Meiner Erfahrung nach haben sich die Menschen schnell an die Nutzung von Videokonferenz-Apps gewöhnt. Am Anfang gab es einige unangenehme Momente, als man sich mit den Funktionen der Software vertraut machte, aber in relativ kurzer Zeit entwickelten sich und entwickeln sich immer noch eine neue Etikette und eine Reihe von Konventionen.
Mit dem Metaverse, da ist sich der Autor sicher, wird es nicht anders sein:
Es gibt immer einen hohen Grad an Künstlichkeit in menschlichen Begegnungen, der nur dann offensichtlich wird, wenn man sie durch die Linse einer anderen Kultur betrachtet.
Neal Stephensons Roman „Snow Crash“ liegt seit Oktober 2021 in neuer deutscher Übersetzung (S. Fischer) vor. Zuletzt erschienen: „Termination Shock“ (William Morrow).
Wir bieten in unserem Average-Internetgeschäft naturgemäß einen “Vorbereitungskurs Metaverse” für Unternehmen jeder Größe an.